Die virtuelle Kanzlei

Vom Küchentisch aus Mandanten beraten

Anna K. BernzenLesedauer: 6 Minuten
In Amerika sorgt die Anwältin Stephanie Kimbro mit einer ungewöhnlichen Idee für Aufsehen: Sie bietet ihre juristischen Dienste nur noch im Internet an. Wie sie auf die Idee der Anwaltskanzlei 2.0 kam und wie sich ihr Arbeitsalltag von dem in einer klassischen Kanzlei unterscheidet, erzählte sie Anna K. Bernzen.

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Als sie geboren wurde, waren Computer dem Durchschnittsamerikaner noch kaum ein Begriff. Heute gehören sie ebenso zum Standardinventar eines amerikanischen Haushalts wie damals Kühlschrank oder Bügeleisen. Doch als die US-Anwältin Stephanie Kimbro 2006 noch einen Schritt weiterging, erregte das selbst bei den technikbegeisterten Amerikaner Aufsehen: Die Juristin aus dem US-Bundesstaat North Carolina verlegte ihre komplette Kanzlei ins Netz. Mit dem Handy, dem iPad oder ihrem Computer kann sie auf ihrer Online-Plattform kimbrolaw.com nun an jedem Ort und zu jeder Zeit ihre Mandanten betreuen. Was für deutsche Kanzleien schon aus Gründen des Berufsrechts derzeit noch eine interessante Utopie ist, entwickelt sich in der juristischen Landschaft der USA derzeit zu einem Trend. Dessen Vorreiterin Stephanie Kimbro ist gefragt: Sie bloggt und gibt Interviews, sie unterrichtet an Online-Universitäten und berät Anwälte beim Aufbau ähnlicher Angebote. Nun hat sie ein Buch über ihre Erfahrungen geschrieben, "Virtual Law Practice". In dem 200-Seiten-Werk, das von der amerikanischen Rechtsanwaltskammer herausgegeben wird, gibt sie einen Überblick über die Herausforderungen der Online-Kanzleigründung: Welche Technik brauche ich? Wie bewerbe ich mein Angebot richtig? Und welche Kosten kommen auf mich zu? Im Gespräch mit Legal Tribune ONLINE lässt sie ihre Erfahrungen Revue passieren. LTO: Frau Kimbro, den Anwalt, dem das Handy scheinbar am Ohr festgewachsen ist, kennen wir. Wie kamen Sie aber auf die Idee, mit Ihrer virtuellen Kanzlei noch einen Schritt weiter zu gehen und Ihre Dienste nur noch im Internet anzubieten? Kimbro: Meine juristische Karriere habe ich in einer kleinen Kanzlei mit Schwerpunkt Erbschaftsrecht begonnen. Einige unserer Mandanten brauchten nur grundlegende juristische Beratung, bekamen dafür aber eine exorbitant hohe Rechnung zugesandt. Schon ein zwanzigminütiges Erstgespräch wurde komplett abgerechnet, auch wenn es zwischenzeitig gar nicht um Juristisches, sondern zum Beispiel um die Enkelkinder gegangen war. Für diese Mandanten gab es aber keine alternative Anlaufstelle. Beratungshilfe stand ihnen meist nicht zu und einen anderen Anwalt hätten sie sich auch nicht leisten können. Es gab also eine Lücke zwischen den einfachen juristischen Bedürfnissen der Menschen und der kostspieligen anwaltlichen Beratung, die ich mit meinem alternativen Angebot schließen wollte.

"Auf dem PC meiner Eltern erlernte ich die Programmiersprache"

LTO: Das klingt nach einer sehr altruistischen Motivation. Spielten bei Ihrer Entscheidung auch persönliche Motive eine Rolle? Kimbro: Natürlich, denn Technik habe ich schon immer geliebt. Meine Eltern waren in den 1980er Jahren die Ersten, die in unserer Nachbarschaft einen "Personal Computer" hatten. Auf ihm habe ich die einfache Programmiersprache erlernt. Daher kenne ich mich mit IT sicher besser aus als der durchschnittliche Anwalt. Hinzu kommt, dass mein Ehemann Programmierer ist. Außerdem dachten wir zum Zeitpunkt der Kanzleigründung konkret über Kinder nach. In einer virtuellen Kanzlei, so meine Überlegung damals, würde ich die Möglichkeit haben, mich von zuhause aus um meinen Job und meine Familie zu kümmern.

"Wenn ich vor der Schule auf meine Kinder warte, arbeite ich im Auto weiter"

LTO: Wie sieht diese Balance zwischen Beruf und Familie an einem durchschnittlichen Arbeitstag in Ihrer virtuellen Kanzlei konkret aus? Kimbro: Nach dem Aufstehen überprüfe ich zuerst einmal mein Smartphone. Per E-Mail werde ich darüber benachrichtigt, was auf dem Online-Portal meiner Kanzlei über Nacht passiert ist. Wenn meine Töchter in die Schule gegangen sind, beginnt das klassische juristische Arbeiten. Einen großen Teil meines Arbeitsalltags macht daneben die Mandantengewinnung aus. Ich muss täglich meinen Blog, meine Twitter- und Facebook-Seiten pflegen. Wenn ich nachmittags die Kinder von der Schule abhole, kann ich auf meinem iPad und mit dem Handy weiterarbeiten, während ich im Auto warte. Ich habe dadurch zwar keine klassischen Büroarbeitszeiten von 9 bis 17 Uhr. Aber meine Mandanten haben um diese Zeit schließlich mit ihrer eigenen Arbeit zu tun und sind meist auch erst nachts oder früh morgens online. Insgesamt komme ich so, wie damals in der "richtigen" Kanzlei, auf gut 50 Arbeitsstunden pro Woche.

"Per Webcam oder Telefon kann ich mich jederzeit mit Mandantenkurzschließen"

LTO: Abgesehen von den Arbeitszeiten, wie unterscheidet sich Ihr "virtueller" Arbeitstag von dem in einer klassischen Kanzlei? Kimbro: Als praktizierende Anwältin bin ich deutlich isolierter. Dem begegne ich, indem ich mich über E-Mail-Listen mit Kollegen mit ähnlichen Erfahrungen austausche oder Mentoring von Kollegen der Rechtsanwaltskammer in Anspruch nehme. Die juristische Arbeit und der Kontakt zu meinen Mandanten unterscheiden sich dagegen gar nicht. Letzterer ist eher noch intensiver geworden: Per Webcam oder Telefon kann ich mich jederzeit und an jedem Ort mit ihnen kurzschließen. Zudem können sie sich auf meiner Online-Plattform um ihre juristischen Angelegenheiten kümmern. Diese Flexibilität kommt vielen entgegen. LTO: Besteht Ihre Mandantenkartei dementsprechend größtenteils aus internetbegeisterten Mitt-Zwanzigern? Kimbro: So ähnlich hatte ich es erwartet, tatsächlich bediene ich aber hauptsächlich zwei ganz andere Kategorien von Mandanten: Die einen sind 30 bis 40 Jahre alt, haben junge Familien und sind daher so beschäftigt, dass sie ihre juristischen Probleme lieber zeitsparend per E-Mail klären. Die anderen sind 60 bis 70 Jahre alt und haben sich bei uns, im sonnigen Süden der USA zur Ruhe gesetzt. Durch ihre Kinder und Enkelkinder sind sie im Umgang mit E-Mails und Webchats erfahren und nutzen dieses Medium, um zusammen mit mir ihren Nachlass zu regeln.

"Mandanten aus ländlichen Regionen haben keinen anderen Zugang zu Rechtsberatung"

LTO: Welche Vorteile bietet die virtuelle Kanzlei diesen Mandanten? Kimbro: Sie ist zuerst einmal deutlich kostengünstiger als ein Besuch beim klassischen Anwalt. Der Nachteil ist aber, dass die Kunden sich selber um Beurkundung und Ausführung der Dokumente kümmern müssen. Besonders Mandanten aus ländlichen Regionen hätten allerdings anders als auf diesem virtuellem Weg keinen oder nur erschwerten Zugang zu Rechtsberatung. LTO: Und wie profitieren Sie als Anwältin von dem Kanzleimodell? Kimbro: Ich habe meinen Mandantenkreis über die Grenzen meiner Kleinstadt hinaus erweitert. Außerdem erlaubt mir die virtuelle Plattform, mich in Märkten zu tummeln, die mir ohne große Kanzlei im Rücken sonst verschlossen blieben.

"Für einen Familienrechtsstreit eignet sich die virtuelle Kanzlei nicht"

LTO: So positiv dies für Anwalt und Mandanten klingt: Eine virtuelle Kanzlei muss doch auch eine Schwachstelle haben. Kimbro: Die virtuelle Rechtsberatung eignet sich nicht für Probleme, die komplexe Verhand-lungen oder einen dauerhaften, intensiven Kontakt mit den Mandanten erfordern. Ein Beispiel ist ein Familienrechtsstreit, in dem es um Kindesunterhalt und –betreuung geht. Dort stößt die virtuelle Kanzlei an ihre Grenzen. Hinzu kommt das Problem der Datensicherheit: Viele Kanzleien haben nur einen einzigen Inhouse-Server. Was tun, wenn der bei einem Feuer zerstört wird? Multiple Backups an einem sicheren Ort, so wie ich sie habe, sind ein Muss. Wer fremde Software nutzt, muss zudem beim Kauf genau darauf achten, dass die Nutzungsbedingungen seinen rechtlichen Vorstellungen entsprechen. LTO: Man merkt, Sie bringen eine Menge Expertise auf diesem Gebiet mit. Haben Sie deshalb nun ein Buch über ihre Arbeit in einer virtuellen Kanzlei verfasst? Kimbro: Ich bin mir sicher, dass sich die virtuelle Arbeitsweise in den nächsten fünf bis zehn Jahren auch im juristischen Bereich durchsetzen wird. Dann kommen auf die Kanzleien viele Fragen zu, auf die ich in meinem Buch eine Antwort gebe. Am wichtigsten ist mir das ethische Risiko: Die Daten der Mandanten müssen unbedingt geschützt werden! Für den Anwalt persönlich ist es in der virtuellen Kanzlei dagegen wichtig, flexibel zu sein. Man setzt sich eben nicht mit dem Mandanten zusammen und bespricht seinen Fall bei einer Tasse Kaffee wie in einer traditionellen Kanzlei.

"In einer Hybridform wird sich die virtuelle Kanzlei auch in Europa durchsetzen"

LTO: Was schätzen Sie: Wird die virtuelle Kanzlei auch in Europa auf Dauer ein Erfolg? Kimbro: Zumindest in einer Hybridform wird sie sich auch dort und auch in traditionellen Kanzleien durchsetzen. Das heißt, dass diese zusätzlich zum persönlichen Beratungsangebot nun auch im Internet ansprechbar werden und so flexibler reagieren können. Gerade größere Kanzleien haben diesen Trend schon heute erkannt. Dies ist eine kundengetriebene Entwicklung: Internationale Mandanten, die auch nur ein wenig technologiebegeistert sind, wissen, dass sich mit Praktiken wie dem Cloud-Computing Kosten sparen lassen und werden das in Zukunft energisch einfordern.

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