Generalanwalt am EuGH

Keine Ein­hal­tung der Arbeits­zeit­re­geln ohne Arbeits­zei­t­er­fas­sung?

Gastbeitrag von Dr. Wolfgang Lipinski und Florian DenningerLesedauer: 4 Minuten

Unternehmen müssen die Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter dokumentieren. Dafür müssen die EU-Mitgliedstaaten entsprechende Gesetze schaffen, so der EuGH-Generalanwalt. Wolfgang Lipinski und Florian Denninger zu den arbeitsrechtlichen Folgen.

Die heutige Arbeitswelt ist schnelllebig. Digitalisierung sowie kurzfristige Nachfragen von Kunden führen dazu, dass die regelmäßige Arbeitszeit von Arbeitnehmern immer schlechter planbar wird. Dadurch kommt es in Unternehmen häufiger unabwendbar zur Überschreitung der regelmäßigen Arbeitszeit oder Nichteinhaltung von Ruhepausen. Insbesondere zur Sicherheit und zum Zwecke des Gesundheitsschutzes von Arbeitnehmern enthält die EU-Arbeitszeitrichtlinie (2003/88/EG) deshalb gewisse Vorgaben zur Begrenzung der Arbeitszeit sowie zur Einhaltung täglicher und wöchentlicher Ruhezeiten.

Nun sollen den Schlussanträgen des Generalanwalts am Europäischen Gerichtshof (EuGH) zu Folge Unternehmen verpflichtet sein, ein System zur Erfassung der täglichen effektiven Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter einzuführen (Schlussanträge v. 31.01.2019, Az. C-55/18).

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Was ist überhaupt "Arbeitszeit"?

Der Generalanwalt bezieht sich dabei allein auf den arbeitsschutzrechtlichen Arbeitszeitbegriff. Vergütungsrechtliche Aspekte sind hingegen unbeachtlich. Die vergütungsrechtliche Arbeitszeit ist diejenige, die z.B. in Arbeitsvertrag oder Tarifvertrag für den jeweiligen Mitarbeiter mit Blick auf die Vergütung geregelt ist.

Die arbeitsschutzrechtliche Arbeitszeit meint den Zeitraum der tatsächlichen Verrichtung der Arbeitsleistung, ausgenommen Ruhepausen. Dadurch wird nur festgelegt, wie lange und wann der Mitarbeiter höchstens arbeiten darf und wann dem Mitarbeiter Ruhepausen in welcher Mindestlänge zu gewähren sind. So stellen beispielsweise Dienstreisezeiten grundsätzlich keine arbeitsschutzrechtliche Arbeitszeit dar, sofern der Mitarbeiter die arbeitsvertraglich geschuldete Hauptleistung (z.B. Bearbeitung mitgeführter Akten) in dieser Zeit nicht erfüllt. Dienstreisezeiten können hingegen – je nach Regelung – vergütungsrechtliche Arbeitszeit darstellen.

Diejenige Arbeitszeit, welche die werktägliche Arbeitszeit der Mitarbeiter überschreitet, müssen Unternehmen gem. § 16 Abs. 2 Arbeitszeitgesetz (ArbZG) bereits dokumentieren; andernfalls droht eine Geldbuße von bis zu 15.000 Euro. Die Dokumentationspflicht bezieht sich allein auf diejenige Arbeitszeit, die an Werktagen den Zeitraum von acht Stunden überschreitet oder auf Sonn- oder Feiertage fällt. Umgekehrt formuliert sind Unternehmen nach dem deutschen ArbZG nicht verpflichtet, die werktägliche Arbeitszeit von acht Stunden oder weniger generell zu dokumentieren.

Der EuGH-Fall: Deutsche Bank in Spanien

In der nun vor dem EuGH liegenden Rechtssache "Federación de Servicios de Comisiones Obreras (CCOO) gegen Deutsche Bank SAE" (C‑55/18) begehrt die spanische Gewerkschaft CCOO festzustellen, dass die Deutsche Bank ein Arbeitszeiterfassungssystem einführen müsse. Ein solches System sei nach Auffassung der CCOO insbesondere zur Überprüfung der Einhaltung der vereinbarten Arbeitszeit einzuführen. Dazu verpflichte nicht nur das spanische Recht, sondern auch die Charta der Grundrechte der EU sowie die EU-Arbeitszeitrichtlinie.

Die Deutsche Bank hält dem entgegen, dass nach der Rechtsprechung des Obersten spanischen Gerichtshofs eine solche umfassende Verpflichtung nicht bestehe. Unternehmen seien nach spanischem Recht nur zur Führung einer Liste der geleisteten "Überstunden" verpflichtet. Sofern der spanische Gesetzgeber darüber hinaus eine Verpflichtung von Unternehmen zur umfassenden Arbeitszeiterfassung gewollt habe, sei dies ausdrücklich so geregelt worden (z.B. für Teilzeitbeschäftigte).

Dies entspricht – vereinfacht dargestellt – im Ergebnis der Rechtslage in Deutschland mit der Dokumentationspflicht ab mehr als acht Stunden werktägliche Arbeitszeit. Eine Verpflichtung zur umfassenden Arbeitszeiterfassung hat auch der deutsche Gesetzgeber nur in bestimmten Fällen ausdrücklich normiert, z.B. für Beschäftigte im Straßentransport.

Der Nationale Gerichtshof Spanien hatte Zweifel an der Vereinbarkeit der spanischen Rechtsvorschriften mit der EU-Arbeitszeitrichtlinie sowie der Arbeitsschutzrahmenrichtlinie (89/391/EWG) und wendete sich mit einem Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH.

Generalanwalt: Unternehmen zur Erfassung der täglichen effektiven Arbeitszeit verpflichtet

Eine Verpflichtung der Unternehmen zur umfassenden Arbeitszeiterfassung ist nach Auffassung des EuGH-Generalanwalts unabdingbare Voraussetzung für eine Einhaltung der Arbeitszeitregeln und deren Überprüfung. Dies folge aus der EU-Grundrechtecharta und der EU-Arbeitszeitrichtlinie und sei im Hinblick auf Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz zum umfassenden Schutz der Arbeitnehmerrechte auf Begrenzung der Arbeitszeit sowie auf Einhaltung von Ruhezeiten erforderlich. Nationale Rechtsvorschriften, aus denen sich eine solche Verpflichtung nicht (auch nicht durch Gesetzesauslegung) ergäbe, seien unionsrechtswidrig und unangewendet zu lassen.

Mitgliedstaaten der EU müssten daher eine gesetzliche Regelung schaffen, die Unternehmen zur Einführung eines Systems zur Erfassung der täglichen effektiven Arbeitszeit verpflichtet. Die Art und Weise der Umsetzung einer Verpflichtung für Unternehmen zur Arbeitszeiterfassung obliege dabei den Mitgliedstaaten selbst.

Handlungsbedarf für den Gesetzgeber und für Unternehmen in Deutschland?

Das deutsche ArbZG wird den Anforderungen des EuGH-Generalanwalts an eine hinreichende Umsetzung der EU-Arbeitszeitrichtlinie nicht gerecht, da es Unternehmen nicht zur umfassenden Arbeitszeiterfassung verpflichtet. Der deutsche Gesetzgeber müsste also nachbessern, sofern der EuGH – wie in den meisten Fällen – den Schlussanträgen folgt.

In Unternehmen bestehen allerdings bereits nicht selten (z.B. aufgrund von Betriebsvereinbarungen) Systeme, die über die nationale Verpflichtung hinaus die Arbeitszeit der Mitarbeiter umfassend aufzeichnen. Solche Arbeitszeiterfassungssysteme sind jedoch häufig an Lohnabrechnungssysteme gekoppelt und damit auf die vergütungsrechtliche Arbeitszeit ausgerichtet. Derartige Systeme dokumentieren daher nicht auch automatisch die arbeitsschutzrechtliche Arbeitszeit, sofern diese von der vergütungsrechtlichen Arbeitszeit abweicht.

Beispielsweise für Mitarbeiter in einem Krankenhaus dürfte dies meist unerheblich sein, da die Arbeitszeit im vergütungsrechtlichen Sinne weitestgehend deckungsgleich mit der Arbeitszeit im arbeitsschutzrechtlichen Sinne sein dürfte. Demgegenüber können vergütungsrechtliche Arbeitszeit und arbeitsschutzrechtliche Arbeitszeit insbesondere für Mitarbeiter in Branchen auseinanderfallen, in welchen Dienstreisen erfolgen, die nicht eine Erfüllung der arbeitsvertraglichen Hauptleistung darstellen (z.B. Mitarbeiter im IT-Support).

Sollte der EuGH den Schlussanträgen des Generalanwalts folgen, müssen Unternehmen umfassende Arbeitszeiterfassungssysteme einführen oder sofern bereits vorhanden, um eine Funktion erweitern, durch welche (zumindest auch) die arbeitsschutzrechtliche Arbeitszeit umfassend dokumentiert wird. Ein etwaig existierender Betriebsrat ist hierbei zu beteiligen, insbesondere wenn ein umfassendes Arbeitszeiterfassungssystem geeignet ist, das Verhalten oder die Leistung der Arbeitnehmer zu überwachen.

Der Autor Dr. Wolfgang Lipinski ist Partner bei Beiten Burkhardt in München, Fachanwalt für Arbeitsrecht und Leiter der Praxisgruppe Arbeitsrecht. Er berät bundesweit in- und ausländische Unternehmen in allen Fragen des kollektiven und individuellen Arbeitsrechts. Zu den Schwerpunkten seiner Tätigkeit gehören neben tarifrechtlichen Projekten aller Art insbesondere die strategische Planung, Verhandlung und Umsetzung von Restrukturierungs- und Sanierungsmaßnahmen.

Der Autor Florian Denninger, RA, ist Associate bei Beiten Burkhardt in München und Mitglied der Praxisgruppe Arbeitsrecht. Sein Tätigkeitsbereich umfasst die Beratung nationaler und internationaler Unternehmen hinsichtlich sämtlicher Rechtsfragen auf dem Gebiet des Individual- und Kollektivarbeitsrechts.

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