Litigation-PR-Experte James F. Haggerty

"Die öff­ent­liche Mei­nung ent­scheidet, was als Wahr­heit gilt"

Lesedauer: 8 Minuten
Litigation-PR steckt hierzulande noch in den Kinderschuhen. In den USA wird sie seit mehr als 20 Jahren betrieben. James F. Haggerty war von Anfang an dabei und gilt als einer der weltweit führenden Experten auf diesem Gebiet. Im LTO-Interview spricht er über Pionierarbeit in den frühen 90ern, über die für seinen Job notwendigen Fähigkeiten und darüber, wie das Internet seine Arbeit verändert hat.

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LTO: Als Sie mit Litigation-PR begonnen haben, war dieses Gebiet kaum erschlossen. Wie sind Sie mit der Branche in Kontakt gekommen? Haggerty: Ich fing als PR-Berater mit einem Jura-Abschluss an und arbeitete daher natürlich mit Juristen im Bereich Rechtsangelegenheiten. Genau zu dieser Zeit fingen die Medien in den USA an, über Gerichtsverfahren zu berichten. Im Laufe einer Karriere schaut man immer wieder zurück und es sieht so aus, als habe man jeden Schritt geplant. Tatsächlich aber hängt vieles von der passenden Gelegenheit ab. Als der O.J.-Simpson-Prozess in den frühen 90er-Jahren Aufsehen erregte, begann ich gerade meine Tätigkeit in der Litigation-PR. LTO: War der O.J.-Simpson-Prozess eine Initialzündung für Litigation-PR in den USA? Haggerty: Es gab vorher schon andere Fälle. In einem berühmten Fall Ende der 80er-Jahren hatte General William Westmoreland den Fernsehsender CBS wegen Verleumdung verklagt. Das war einer der ersten Fälle, die nicht nur im Gerichtssaal, sondern auch vor dem "Gericht der öffentlichen Meinung" ausgetragen wurde. Interessant war dabei, dass beide Seiten zu Protokoll gaben, nachdem sie einen Vergleich gefunden hatten, dass das "Gericht der öffentlichen Meinung" letztendlich bestimmen würde, was die Wahrheit sei. Das ist ein sehr wichtiger Punkt: In den USA enden 95 bis 98 Prozent der gerichtlichen Auseinandersetzungen mit einem Vergleich und es gibt keine abschließende gerichtliche Beurteilung. Also ist manchmal das "Gericht der öffentlichen Meinung" der einzige Ort, an dem die Wahrheit, über was tatsächlich passiert ist, herauskommt. LTO: Also beginnt Ihre Arbeit lange bevor am Gericht verhandelt wird? Haggerty: Eine rechtliche Auseinandersetzung beginnt zum Teil lange bevor eine Klage eingereicht wird. Von diesem Zeitpunkt an ist es von herausragender Bedeutung, wie die Öffentlichkeit wahrnimmt, was passiert. Insbesondere in den USA gibt es die Sorge, dass Richter oder Geschworene beeinflusst werden. Dabei geht es bei dem, was wir tun, in der Regel darum, die Wahrnehmung der entscheidenden Punkte zu beeinflussen. Manchmal wollen wir auch der anderen Seite verdeutlichen, was unsere Position ist und wie sie in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Also ist es oft die andere Seite, die man genauso beeinflussen möchte, wie alle anderen. All das beginnt lange bevor man im Verhandlungssaal steht.

"Litigation-PR ist vergleichbar mit Lobbyarbeit"

LTO: Konnten Sie auf bereits vorhandene Methoden oder Strategien zurückgreifen, als Sie mit der Litigation-PR angefangen haben? Haggerty: Es gab ähnliche Disziplinen. Litigation-PR wurde häufig mit Krisen-Kommunikation verglichen. Aber da gibt es Unterschiede: Wenn eine Industrieanlage in die Luft fliegt, tritt der Krisen-Kommunkationsplan sofort in Kraft. Aber die Krise endet üblicherweise nach 48 oder 72 Stunden, vielleicht nach einer Woche. Die Reaktion der Medien erfolgt innerhalb dieses Zeitrahmens. Ein Gerichtsverfahren hingegen kann Monate oder Jahre dauern. Wir haben an Fällen mitgearbeitet, die beinahe ein Jahrzehnt dauerten. Der Rhythmus von Information und Kommunikation ist also ein ganz anderer. Deshalb mussten wir Strategien und Techniken entwickeln, um mit dem Wissen reagieren zu können, dass der Fall uns noch einige Zeit begleiten wird.

LTO: Mussten Sie Ihre Methoden völlig neu entwickeln? Haggerty: Einiges entwickelten wir tatsächlich bei Null. Ein Aspekt, der typisch ist für Litigation, ist die Komplexität und die Fülle an Informationen, Dokumenten, Beweisen und Daten, die mit einem Fall verbunden sind. In dieser Hinsicht ist Litigation-PR vergleichbar mit Lobbyarbeit, bei der man große Mengen komplexer Information für einen bestimmten Personenkreis zusammenfasst. Das ist überaus wichtig. In einem Gerichtsverfahren können Tausende Seiten Akten und Millionen von Dokumenten anfallen. Es ist sehr schwierig, dies einem Personenkreis zu vermitteln, der nicht alles lesen muss. Hin und wieder höre ich von einem Anwalt: "Ein Journalist hat mich gerade angerufen und ich habe ihm die Unterlagen rübergeschickt." Stellen Sie sich einen Meter hohen Aktenberg vor, auf dem Schreibtisch des Journalisten, dessen Deadline in zwei Stunden abläuft. Wie soll er diese Informationen verarbeiten? Ein großer Teil unserer Arbeit besteht darin, in diesen umfangreichen Informationen eine "Story" zu finden. LTO: Wie wählen Sie aus, welche Informationen Sie an Journalisten weitergeben und welche nicht? Stellen Sie nur solche Dokumente zur Verfügung, die Ihren Klienten in einem positiven Licht erscheinen lassen? Haggerty: Wenn Sie das machen und bei Ihrer Story nicht sämtlichen Fakten berücksichtigen, wird sich das als Bumerang erweisen. Wie ein Rechtsanwalt vertritt auch ein Litigation-PR-Berater eine Seite. Aber ich finde: Wenn man die Wahrheit zu sehr verbiegt, dann bricht sie. Wenn Sie Vertrauen in das Anliegen Ihres Mandanten haben, dann präsentieren Sie die Fakten auf eine ausgewogene Art und Weise, anstatt nur herauszupicken, was für die eigene Sache spricht. Letzenendes, insbesondere im Internet-Zeitalter, sind alle Gerichtsakten öffentlich. Die Wahrheit wird herauskommen.

"Wir müssen die Nuggets aus dem Informationsfluss sieben"

LTO: Das klingt für mich, als würde diese Tätigkeit besondere Fähigkeiten erfordern. Welche Kompetenzen sind die wichtigsten für Ihren Job? Haggerty: Man muss kein Anwalt sein für diesen Job, aber es hilft. Denn die Fähigkeit, große Mengen an Information zu verarbeiten ist elementar, genauso wie zu verstehen, welche Aspekte aus Sicht der Öffentlichkeit wichtig sind. Eine weitere Kernkompetenz ist die Fähigkeit, Informationsflüsse zu sieben, um die Nuggets zu finden, auf denen deine "Story" aufbaut. LTO: Wir haben gerade über die Fähigkeiten geredet, die ein PR-Berater benötigt. Aber im Endeffekt ist es der Anwalt, der im Rampenlicht steht. Braucht auch ein Anwalt ein besonderes Talent, um erfolgreich Litigation-PR zu betreiben? Haggerty: Absolut. Es gibt immer mehr Anwälte, die diese Kompetenzen entwickeln. Sie unterscheiden sich sehr von den Fähigkeiten, die ein Rechtsanwalt sonst benötigt. Rechtsanwälte stecken sehr tief in den Details eines Falles. Oft passiert es, dass ein Journalist einen Anwalt anruft. Der ist gedanklich mit dem beschäftigt, was er in diesem Moment bearbeitet. Und das ist es dann, worüber er mit dem Journalisten spricht. Auch wenn es sich nur um einen sehr kleinen Teil eines großen Falles handelt. Wir bringen Anwälten bei, einen Schritt zurück zu treten, den ganzen Fall zu betrachten und dann auf dieser Ebene darüber zu reden. LTO: An welchem Punkt brauchen Anwälte Ihre Hilfe? Haggerty: Ich würde sagen, immer wenn ein Fall über den Gerichtssaal hinaus Aufmerksamkeit auf sich zieht, braucht man die Unterstützung eines Litigation-PR-Beraters. Da sind natürlich auch aufsehenerregende Fälle. Zum Beispiel der Fall Strauss-Kahn. Unsere Arbeit ist aber tendenziell eher unternehmensorientiert. Je nach dem, um welches Unternehmen es sich handelt, kann die New York Times wichtig sein. Aber wenn Sie ein Elektronikunternehmen führen, dann ist die "Electronic Times" vielleicht genauso bedeutend für Sie und Ihre unternehmerischen Ziele. Ein Beispiel: Wir waren an einer der größten Patent-Auseinandersetzungen in der US-Geschichte beteiligt. Er dauerte einige Jahre und es ging um komplexe Technologien. Ein Teil der Aufgabe war, Informationen darüber für zwei sehr unterschiedliche Zielgruppen aufzubereiten, wodurch schließlich deren Wahrnehmung des Falles beeinflusst wurde. Dies ist ein großer Unterschied zum O.J.-Simpson-Fall.

"Technologie und Medien können das Gleichgewicht wieder herstellen"

LTO: Welchen Einfluss hat der Aufstieg des Internets seit Mitte der 90er auf Ihre Arbeit? Haggerty: Information ist heute unmittelbar, nicht nur Nachrichten oder Social Media, sondern auch Gerichtsakten. In fünf Minuten können Sie jeden Fall finden, der gestern am Federal Court of Manhattan verhandelt wurde. Jeder mit Interzugang kann das machen. Es hat die Art, wie Fälle wahrgenommen werden, radikal geändert. Vor dem Internet mussten Journalisten, die etwas über einen Fall wissen wollten, in den Gerichtssaal gehen und jede Akte durchblättern, um etwas Interessantes zu finden. Jetzt ist alles einen Klick entfernt. LTO: Kommen wir zurück auf Ihr Bild des "Gerichts der öffentlichen Meinung". Als der deutsche TV-Star Jörg Kachelmann der Vergewaltigung angeklagt war, haben große Nachrichtenseiten ihre Leser darüber abstimmen lassen, ob er schuldig sei oder nicht. Das hat auf mich tatsächlich den Eindruck eines öffentlichen Gerichts gemacht. Haggerty: Es ist fast wie "American Idol", wo das Publikum abstimmt, wer gewinnt und wer verliert. Das Gerichtssystem selbst bewegt sich selbstverständlich nicht in diese Richtung, aber seine öffentlichen Elemente tun es aufgrund der Echtzeit-Natur des Internets. US-Gerichte haben Twitter in den Gerichtssälen erlaubt. Man erhält Live-Updates via Twitter von Personen im Gerichtssaal. Insgesamt muss das Justizsystem anerkennen, dass all dies die Art und Weise ändert, wie Recht praktiziert wird und wie Gesetze beschlossen werden.. LTO: In Deutschland begrüßt nicht jeder diese Entwicklung. Richter sehen die Würde des Gerichts kompromittiert. Gibt es einen Weg zurück? Haggerty: Letztendlich wird es die Art und Weise, wie Gerichte arbeiten, genau so ändern, wie es zum Beispiel der Schritt von der Schreibmaschine zum Computer getan hat. In den 80er-Jahren explodierte in den USA die Zahl der Prozesse. Ein mit mir befreundeter Anwalt ist der Meinung, dass der Grund dafür der Computer gewesen sei. Denn man musste nicht mehr jeden Schriftsatz einzeln tippen, sondern konnte ihn in zwei Sekunden ausdrucken. Technologie beeinflusst das, was passiert - entweder zum Guten oder zum Schlechten. So zu tun, als solle man die Uhr zurückdrehen, ist nicht klug. Man kann Technologien nicht unerfunden machen. Man kann nicht erwarten, dass Richter, Geschworene und die Öffentlichkeit, die in allen anderen Bereichen ihres Lebens Zugang zu Informationen haben, in diesem Bereich Scheuklappen aufsetzen. Ein Punkt ist in diesem Zusammenhang wichtig: Es gab immer Kräfte von außen, die das Justizsystem und den Rechtsweg beeinflusst haben. In erster Linie Geld und Zugang zu Ressourcen. Medien und Technologie sind nur ein weiterer Einfluss, der vielleicht sogar das Gleichgewicht ein Stück weiter wieder herstellt. Das ist eine positive Sache. Es gibt eine große Ethik-Debatte um Litigation-Kommunikation. Es ist wichtig zu verstehen, dass sie ein Werkzeug ist, wie jedes andere, das zum Guten und zum Schlechten genutzt werden kann. James F. Haggerty ist Präsident und CEO der PR Consulting Group. Er war unter anderem an der größten Sammelklage amerikanische Ureinwohner gegen die US-Regierung und an der Entschädigungs-Klage der Wertheim-Erben gegen den Karstadt-Quelle-Konzern. Er ist Autor des Buches "In The Court Of Public Opinion: Winning Strategies for Litigation Communications" Mehr im Internet: Fallbeispiele für gute Litigation-PR laut James F. Haggerty: Martha Stewart's Incredible Comeback A Case Study in Legal Public Relations: Taco Bell Triumphs Over Law Firm’s Failed Lawsuit Attempt Merck Agrees to Settle Vioxx Suits for $4.85 Billion Weiterlesen: Litigation-PR - Das Praxishandbuch für die prozessbegleitende Öffentlichkeitsarbeit Mehr auf LTO.de: "Die Öffentlichkeit als Richter?" von Volker Boehme-Neßler: Litigation-PR unter der Lupe Litigation-PR: Juristische Hilfsdisziplin oder neue Wunderwaffe? Kachelmann-Prozess: Die Journalistin im Visier des Verteidigers

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