Nachwuchsmangel in der Justiz

Mit 6,5 Punkten ins Rich­teramt

von Hasso SuliakLesedauer: 6 Minuten
Top-Absolventen für die Justiz zu gewinnen, wird immer schwieriger: Ihre Zahl schrumpft, gleichzeitig werden andere Juristenjobs immer attraktiver. In einigen Ländern wurden die Einstellungsvoraussetzungen deshalb gesenkt.

Der Deutsche Richterbund (DRB) macht aus seiner Besorgnis um den Nachwuchs keinen Hehl: "Es wird immer schwieriger, junge Juristen für eine Laufbahn als Richter oder Staatsanwalt zu gewinnen", klagt DRB-Besoldungsfachmann und Präsidiumsmitglied Marco Rech. Es drängt die Zeit: "Die Justiz braucht gerade in den nächsten Jahren verstärkt Nachwuchs, weil eine gewaltige Pensionierungswelle auf Gerichte und Staatsanwaltschaften zurollt", beschreibt Rech die zunehmend dramatischer werdende Situation.   Ob es der Justiz allerdings gelingen wird, wie früher noch üblich die Jahrgangsbesten zu rekrutieren, ist mehr als fraglich. Nicht nur sinkt die Zahl der Jurastudenten kontinuierlich, viele von ihnen streben nach dem ersten Examen schon gar nicht mehr das zweite an. Mit der Zahl der Volljuristen schrumpft auch die der Top-Absolventen: Gerade einmal 1.500 Juristen pro Jahr beenden laut DRB ihr zweites Examen mit Prädikat, also mit einem "Vollbefriedigend" oder besser. Und um die konkurrieren Justiz, Anwaltschaft, Ministerien und Wirtschaft. Dabei hat die Justiz bei vielen von ihnen offenbar die schlechtesten Karten. Einer der Hauptgründe dafür dürfte die Bezahlung sein: Wer heute als lediger Richter oder Staatsanwalt in den Beruf einsteigt, erhält nach Angaben des DRB im bundesweiten Durchschnitt rund 48.000 Euro brutto im Jahr. Ein vergleichbarer Prädikatsjurist in einem Unternehmen verdient nach einer Untersuchung der Unternehmensberatung Kienbaum im Auftrag des DRB dagegen im Mittel 87.000 Euro jährlich. Ein Anwalt in einer Großkanzlei verdient danach auf der ersten Karrierestufe im Schnitt sogar 118.000 Euro pro Jahr. Und diese Schere, so DRB-Mann Rech, entwickle sich auch im weiteren Berufsleben immer weiter auseinander, "da sich die Gehälter bei Anwälten und Unternehmensjuristen mit zunehmender Erfahrung um ein Vielfaches stärker entwickeln als bei Richtern und Staatsanwälten."

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Prädikat in der Justiz nicht mehr zwingend

Wie mühsam es mittlerweile geworden ist, geeignete Nachwuchskräfte für die Justiz zu finden, spiegelt sich zunehmend auch in den Einstellungsvoraussetzungen wider. Denn auch wenn viele Bundesländer ihr konstant hohes Niveau der Durchschnittsnoten bei den Einstellungen betonen: Das berüchtigte Doppel-Prädikat ist – im Gegensatz zu früher – längst nicht mehr zwingende Voraussetzung, um Richter oder Staatsanwalt werden zu können. Gesunken sind die Anforderungen etwa im Land Berlin: Vor gut zehn Jahren sollten die Bewerber zwei Prädikatsexamen, also je Examen mindestens neun Punkte vorweisen können. Heute reicht es aus, wenn Bewerber für den richterlichen Probedienst im ersten Staatsexamen mindestens sieben Punkte und im zweiten Staatsexamen mindestens acht Punkte erreicht haben. Ähnliches gilt auch in Bremen: Zwar würden "vorzugsweise" Bewerber mit zwei Prädikatsexamen genommen, wie es auf LTO-Anfrage heißt. Allerdings räumt die dortige Justizverwaltung ein: "Es können auch Bewerber berücksichtigt werden, die in der zweiten Staatsprüfung ein oberes "befriedigend" mit mindestens acht Punkten und in der ersten Staatsprüfung jedenfalls die Note "befriedigend", also mindestens 6,5 Punkte, erreicht haben, […] sofern sie sich durch besondere Qualifikationen auszeichnen wie etwa einschlägige Berufserfahrungen, zusätzliche berufliche Qualifikationen oder Auslandserfahrungen."

"Qualifikation auch anderweitig belegbar"

Offenbar notgedrungen setzen die Bundesländer zunehmend auf Qualifikationsmerkmale neben der Examensnote. So können in Niedersachsen für die Einstellung in die ordentliche Gerichtsbarkeit auch Bewerber berücksichtigt werden, die im zweiten Staatsexamen lediglich 6,5 Punkte erreicht haben, "wenn ihre besondere fachliche Qualifikation anderweitig belegt ist, etwa durch nachgewiesene besondere Leistungen in der ersten Staatsprüfung, im Referendariat oder durch eine wissenschaftliche Tätigkeit". Auch Rheinland-Pfalz setzt nicht mehr ausnahmslos auf Prädikatsjuristen: Seit Januar 2016 sollen Bewerber um eine Einstellung als Richter auf Probe nicht mehr mindestens neun, sondern acht Punkte vorweisen. Auf das "sollen" kommt es dabei an, denn zwingend ist selbst dieses Niveau nicht: "Bei dieser Punktegrenze handelt es sich jedoch nicht um ein Ausschlusskriterium, sondern lediglich um eine Orientierungsmarke", heißt es auf LTO-Anfrage. Es könnten insoweit auch Zusatzqualifikationen wie ein Zweitstudium oder eine Zusatzausbildung, berufsbezogene Auslandserfahrung, Anwaltstätigkeit vor der Bewerbung oder die Tätigkeit an der Universität Berücksichtigung finden. In Nordrhein-Westfalen (NRW) kann eine Einladung bei einem zweiten Staatsexamen mit weniger als einem "vollbefriedigend", mindestens aber mit 7,75 Punkten ebenfalls dann erfolgen, wenn "besondere Eigenschaften" den Notenunterschied kompensieren. "Besondere Eigenschaften" können laut Justizministerium in Düsseldorf "zum einen hervorragende Leistungen im Abitur, dem Studium, im ersten Staatsexamen oder während des Vorbereitungsdienstes (Stationsnoten, Arbeitsgemeinschaften); zum anderen persönliche Fähigkeiten und Leistungen (häufig eine passende abgeschlossene Berufsausbildung)" sein, die den Kandidaten aus dem Bewerberfeld hervorheben. Auch in NRW gesteht man ein, dass der Anteil der Prädikatsjuristen in der Justiz zurückgegangen ist: "Eine Quote von 100 Prozent, wie dies in der Vergangenheit mal der Fall war, wird nicht mehr erreicht", schreibt das Ministerium. In den letzten zehn Jahren habe die Quote bei den eingestellten Prädikatsjuristen zwischen 65 und 95 Prozent geschwankt, im Jahr 2017 habe sie bei 72 Prozent gelegen. Auch in Bayern hat man reagiert: Im Freistaat liegt die für den richterlichen und staatsanwaltlichen Dienst maßgebliche sogenannte Bewerbungsgrenznote seit geraumer Zeit nicht mehr bei neun, sondern derzeit bei acht Punkten in der zweiten juristischen Staatsprüfung. Das bedeutet, dass erst ab dieser Punktzahl ein Bewerbungsverfahren durchgeführt wird. Bei der Berechnung der Examensendnote seien allerdings "die bayerischen Examensgrundsätze maßgeblich, die den schriftlichen Prüfungsteil mit 75 Prozent und den mündlichen Teil mit 25 Prozent gewichten." Außerbayerische Examensergebnisse würden also umgerechnet, teilt das Bayerische Staatsministerium der Justiz mit.

Mindestsumme statt -note

Einige Bundesländer setzen indes überhaupt nicht mehr auf eine bestimmte Note im zweiten Staatsexamen, sondern geben eine Gesamtpunkzahl an, die aus beiden Examensergebnissen erreicht werden muss. So reichen in Thüringen 16 Punkte aus der Summe beider Examina, jedes Examen müsse allerdings mindestens "befriedigend" (6,5 Punkte) sein. In Hessen liegt die Messlatte ein Stück höher: Aus beiden Staatsexamina muss eine Summe von mindestens 17,0 Punkten erreicht werden, wobei der Wert von 8,0 Punkten im zweiten Examen nicht unterschritten werden darf. Und um in Sachsen-Anhalt derzeit zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden, benötigt man nach Auskunft des Justizministeriums in Magdeburg "in der Regel ein vollbefriedigendes Examen mit mindestens neun Punkten und ein weiteres Examen mit mindestens 7,5 Punkten, in der Summe also mindestens 16,5 Punkte." Der Wettbewerb um die besten Juristen ist also in vollem Gange. Er wird sich für die Justiz noch verschärfen, wenn der Pakt für den Rechtsstaat steht, der vorsieht, dass 2.000 zusätzliche Stellen in der Justiz der Länder geschaffen werden sollen.

Ein Job nur für Überzeugungstäter?

Unabhängig von Noten und der Berücksichtigung sonstiger Qualifikationen: Um geeigneten Nachwuchs für die Justiz zu gewinnen, sehen sich einige Bundesländer mittlerweile sogar dazu gezwungen, jungen Juristen die Vorteile einer Tätigkeit als Richter gezielt vor Augen zu führen: "Sie genießen sachliche - und im Falle der auf Lebenszeit ernannten Richterinnen und Richter - auch verfassungsrechtlich garantierte persönliche Unabhängigkeit," wirbt etwa das Justizministerium in Mecklenburg-Vorpommern in einer Kampagne. Und warum der Richterjob der besser bezahlten Tätigkeit in freier Wirtschaft oder Großkanzlei ebenfalls vorzugswürdig sein könnte, liegt für das Ministerium in Schwerin auch auf der Hand: "Sie tragen vom ersten Tag Ihrer Tätigkeit an Verantwortung, entscheiden nach Gesetz und Recht - und nicht geleitet von Mandanten- oder Arbeitgeberinteressen." Ob das allerdings die auf dem Arbeitsmarkt begehrten Prädikatsjuristen überzeugen wird, darf bezweifelt werden. Zumal das Land – trotz besagter Imagekampagne – Probleme hat, ausreichend Referendare zu gewinnen.

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